Interview mit Gastforscher Rafael Leite: „Ich freue mich darauf die vielfältige Verwaltungspraxis in Deutschland zu untersuchen“
Seit Oktober 2024 ist der brasilianische Verwaltungswissenschaftler Rafael Leite für ein Jahr als Gastforscher am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV). Wir freuen uns, ihn bei uns begrüßen zu dürfen und mit ihm in einen Erfahrungsaustausch zu treten. Er ist Stipendiat des renommierten Bundeskanzlerstipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung. Im Interview beantwortet er fünf Fragen zu seiner Arbeit und zu seinem Interesse an der deutschen Verwaltung.
Im Rahmen des Bundeskanzlerstipendiums wird Rafael Leite ein Forschungsprojekt bearbeiten, in dem er den Prozess der Führungskräfteauswahl und -entwicklung von Landesregierungen in Deutschland untersuchen möchte. Im Mittelpunkt seines Interesses steht dabei die Frage, wer und was Reformvorhaben vorantreibt. Rafael Leite hat einen Abschluss in öffentlicher Verwaltung und hat als Wissenschaftler in staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gearbeitet. Zuletzt arbeitete er als Forscher beim südafrikanischen Think Tank „New South Institute“, und als freiberuflicher Forscher für verschiedene Institutionen in Brasilien und multilaterale Organisationen in Lateinamerika. Rafael Leite wird die Monate Oktober und November am Hauptsitz des FÖV in Speyer verbringen und wechselt ab Dezember in die Berliner Dienststelle.
Fünf Fragen an Rafael Leite
Warum haben Sie sich für einen Forschungsaufenthalt am FÖV entschieden?
Brasilien ist ein riesiges, föderales Land mit vielen Ungleichheiten. Leider habe ich oft das Gefühl, dass wir wenig internationalen Austausch suchen. Vor allem wenn es um die Modernisierung und Reform des öffentlichen Sektors geht, orientiert sich Brasilien selten an anderen Staaten.
Seit der Verfassung von 1988 versucht Brasilien einen kooperativen Föderalismus aufzubauen. Dieser unterscheidet sich stark vom amerikanischen Förderalismus und ist in vielerlei Hinsicht von Deutschland inspiriert. Dennoch ist Deutschland im Bereich der öffentlichen Verwaltung in Brasilien kaum als Beispiel sichtbar, obwohl Deutschland bei den Verwaltungskapazitäten, insbesondere auf lokaler Ebene, gut abschneidet. Ich frage mich daher, warum Deutschland in Brasilien nicht stärker als Beispiel herangezogen wird.
Deshalb habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, um für vergleichende Forschung nach Deutschland zu kommen. Ich wurde auf das Bundeskanzler-Stipendienprogramm aufmerksam und suchte nach Institutionen in Deutschland, die mich während meines Aufenthaltes aufnehmen würde. Ich wollte eine Institution, die sich nicht nur auf die Forschung konzentriert, sondern auch im Dialog mit der Verwaltungspraxis steht und eine starke Verbindung zu subnationalen Regierungen hat. Auf dieser Grundlage war klar, dass das FÖV die ideale Institution für die Unterstützung und Durchführung meines Forschungsprojektes ist.
Was begeistert Sie an der Forschung über und für die öffentliche Verwaltung?
Was mich am öffentlichen Sektor begeistert, ist die Tatsache, dass der Staat als Instrument des kollektiven Handelns Probleme in großem Maßstab lösen kann. Nur mit einer kompetenten öffentlichen Verwaltung, die klar und konsequent handelt, können wir drängende Probleme wie Armut, Abholzung und mangelnden Zugang zu guter Gesundheitsversorgung und Bildung lösen.
Außerdem möchte ich dazu beitragen, die öffentliche Verwaltung zu befähigen Sie soll in die Lage versetzt werden, fachlich fundierte und politisch umsetzbare Strategien und Vorschläge zu erarbeiten. Deshalb spricht mich das Motto des FÖV „Forschung über und für die öffentliche Verwaltung“ an. Ich bin der Meinung, dass die öffentliche Verwaltung zu den Forschungsfeldern gehört, die die Praxis nie aus den Augen verlieren dürfen.
Was möchten Sie während Ihres Aufenthalts am FÖV erarbeiten?
Ich arbeite an einem Forschungsprojekt, das den Prozess der Führungskräfteauswahl und -entwicklung von Landesregierungen in Deutschland untersucht. Im Moment bin ich noch dabei, die Grenzen und den Umfang meines Projekts zu definieren. Das ursprüngliche Forschungsdesign war sehr breit angelegt. Jetzt entscheide ich genauer, welche Führungsebenen innerhalb der Regierung und welche Behörden ich untersuchen werde. Im Moment lese ich viel, um zu verstehen, wie das Verwaltungssystem in Deutschland funktioniert – angefangen bei den Grundlagen wie der Struktur der Personalorganisation, den Einstellungspraktiken, den Grenzen zwischen Politik und Verwaltung bei der Gestaltung des oberen öffentlichen Managements und den Einstellungsstrategien.
Während meines Aufenthalts in Deutschland möchte ich mit Akteurinnen und Akteuren aus Wissenschaft, Think Tanks, der Zivilgesellschaft und vor allem der Regierung selbst sprechen, die zur Debatte über die Reform und Modernisierung des Staates in Deutschland beitragen. Ich möchte viel Feldforschung mit Politikerinnen und Politikern, Verwaltungsangestellten, Beamtinnen und Beamten sowie Aktivistinnen und Aktivisten betreiben. Ich freue mich darauf, die vielfältige Verwaltungspraxis in Deutschland zu untersuchen und daraus Lehren für mögliche Reformen in Ländern wie Brasilien und Südafrika zu ziehen.
Was wollen Sie während Ihrer Gastforschertätigkeit über die Verwaltung in Deutschland erfahren?
Deutschland ist ein sehr dezentralisiertes Land. Ich schätze es sehr, dass der Föderalismus als Werkstatt der Demokratie dient. Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland Innovationen, die wenig beachtet werden, im Laufe der Zeit zu allmählichen Veränderungen führen. Es gibt in Deutschland auch eine weit verbreitete Skepsis gegenüber dem, was der The Economist klugerweise als „Reform Fairy“ bezeichnet hat: die Vorstellung, dass Reformen große Probleme schnell und mit minimalen politischen und wirtschaftlichen Kosten lösen können. Diese Eigenschaften machen das deutsche Verwaltungsmodell für mich interessant. Sie bringen aber auch eine Herausforderung mit sich, der ich mich als Außenstehender stellen muss: das Aufspüren von Best Practices und Innovationen, die im internationalen Kontext innovativ sind, den Deutschen aber alltäglich erscheinen mögen.
Während meines Forschungsaufenthaltes möchte ich verstehen, wie und wann es zu Unterschieden in der Führungspraxis der deutschen Landesregierungen kommt und was die Gründe dafür sind. Ich glaube, dass Personalentscheidungen Politik sind: Es ist wichtig zu wissen, wie eine Organisation ihre Führungskräfte auswählt, um die Prioritäten der Organisation zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um Gesetze oder Budgets, denn diese sind der Auswahl von Führungskräften nachgelagert. Ich glaube, dass die Auswahl von Führungskräften viel über die Verwaltungsorganisation, die Prioritäten und die Volkswirtschaft eines Landes aussagt.
Worauf freuen Sie sich während Ihres Forschungsaufenthaltes in Deutschland?
Ich möchte zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Menschen und Organisationen beitragen, die in Brasilien und Deutschland im Bereich der öffentlichen Verwaltung tätig sind. Das gilt ebenso für die Zusammenarbeit zwischen denen, die über die Transformation und Modernisierung des Staates nachdenken. Ich würde mich freuen, wenn ich einen kleinen Beitrag dazu leisten könnte, die Menschen in Brasilien mit den Good Practices, die hier in Deutschland angewandt werden, vertraut zu machen. Ich möchte damit den Horizont für mögliche Maßnahmen und kreative Lösungen für Brasilien erweitern.
Es wäre mir eine Freude, zu einer gegenseitigen Zusammenarbeit beizutragen: Ich möchte das Repertoire an Alternativen für die mögliche Staatsmodernisierung in Brasilien erweitern. Ebenso möchte in Deutschland die Neugier wecken, Good Practices aus Ländern des Globalen Südens zu verstehen und hier anzuwenden.
Herzlichen Dank für das Interview und viel Erfolg!